Die Wende vom Abriss zur Sanierung
Im Nachkriegsdeutschland war der Bedarf an Wohnungen riesig. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene suchten Unterkunft, die Städte lagen in Trümmern. Die Lösung? Schnell bauen. Und zwar mit allem, was zur Hand war. Alte Gebäude, die noch standen, wurden repariert, aber selten wirklich erhalten. Stattdessen entstanden neue Großsiedlungen am Stadtrand - betonfarben, funktionell, ohne Rücksicht auf die alte Stadtstruktur. Die Bauindustrie setzte auf Massenproduktion, Holzbalkendecken verschwanden, stattdessen kamen leichte Trägerdecken und der schwimmende Estrich, eine deutsche Erfindung, die sich später weltweit durchsetzte.
Doch in den 1960er Jahren wurde es noch radikaler: Die Flächensanierung wurde zur Regel. Viertel, die seit Jahrhunderten bewohnt waren, wurden einfach abgerissen. Alte Fassaden, enge Gassen, Hofräume - alles weg. Der Begriff "Kahlschlag" wurde zum Synonym für diese Zerstörung. Es ging nicht um Erhalt, sondern um Neuanfang. Und zwar mit so wenig Rücksicht wie möglich auf die Menschen, die dort lebten. In Berlin, Hamburg oder Köln wurden ganze Straßenzüge verschwunden, um Platz für breite Straßen und Plattenbauten zu machen.
Die Proteste, die eine Stadt veränderten
Dann kam der Wendepunkt. Nicht durch ein Gesetz, sondern durch Menschen. In den frühen 1980er Jahren besetzten junge Leute verwaiste Häuser in Berlin-Kreuzberg. Sie lebten dort, reparierten die Dächer, malten die Treppenhäuser an - und forderten: Lasst uns die Häuser nicht abreißen, sondern sanieren. Diese Hausbesetzungen waren kein bloßer Akt der Rebellion. Sie waren eine neue Art der Stadtpolitik. Die Bewohner sagten: Wir kennen unsere Straße besser als die Stadtplaner. Wir wollen nicht weggezogen werden, wir wollen bleiben - aber in einem besseren Haus.
Hardt-Waltherr Hämer, Planungsdirektor der Internationalen Bauausstellung IBA Berlin, hörte zu. Er entwickelte das Konzept der "Behutsamen Stadterneuerung". 1981 veröffentlichte er die "Zwölf Grundsätze", die alles veränderten. Kein Abriss mehr. Keine Umstrukturierung durch Gewalt. Stattdessen: Sanieren, wo möglich. Bewahren, wo nötig. Und die Bewohner mit einbeziehen. Die Politik, die bis dahin nur von Zahlen und Flächen sprach, musste lernen, von Menschen zu sprechen. Im März 1983 nahm das Abgeordnetenhaus von Berlin diese Grundsätze als Leitlinie an. Es war der Beginn einer neuen Ära.
Die energetische Wende: Wärme wird zum Thema
Während die Städte ihre Seele zurückgewannen, begann eine andere Revolution: die energetische. 1979 trat die erste Wärmeschutzverordnung in Kraft. Sie verlangte erstmals, dass neue Gebäude bestimmte Dämmwerte erreichen. Doch die meisten Altbauten - über 75 Prozent aller Wohnungen in Deutschland - wurden vor dieser Regel gebaut. Sie hatten keine Dämmung, nur eine einzelne Glasscheibe in den Fenstern, und Heizungen, die älter waren als die meisten Bewohner.
Die Folge? Ein Drittel aller Treibhausgasemissionen in Deutschland kam aus den Gebäuden. Die Heizkosten stiegen, die Luft wurde schlechter. Und doch: Niemand wollte sanieren. Zu teuer, dachten viele. Zu aufwendig, sagten andere. Doch die Politik zwang zum Handeln. 2002 ersetzte die Energieeinsparverordnung (EnEV) die alte Wärmeschutzverordnung. Sie brachte strengere Regeln für Fenster, Wände und Heizungen. Heute gilt das Gebäudeenergiegesetz (GEG) - und es ist klar: Bis 2045 muss der gesamte deutsche Gebäudebestand klimaneutral sein.
Das bedeutet: Dämmung der Außenwände, Austausch der Fenster, neue Heizungen. Aber nicht nur das. Es geht auch um die Art, wie wir heizen. Heizungen in Deutschland sind im Durchschnitt älter als 17 Jahre. Die meisten laufen mit Öl oder Gas - und das ist nicht mehr tragbar. Die Lösung? Wärmepumpen, Solarthermie, Holzpellets. Und immer mehr: die Kombination aus energetischer Sanierung und Erhaltung des historischen Charakters.
Denkmalschutz und Technik: Ein Balanceakt
Ein altes Haus aus dem 19. Jahrhundert hat keine glatte Fassade. Es hat Zierleisten, Klinker, Holzfenster mit kleinen Scheiben. Diese Details sind nicht nur schön - sie sind Teil der Geschichte. Doch wie dämmt man ein solches Haus, ohne es zu zerstören? Wie setzt man moderne Fenster ein, ohne die Fassade zu verändern? Wie installiert man eine Wärmepumpe, wenn der Hof zu klein ist?
Das ist der Kern der modernen Altbausanierung: Technik, die sich an die Substanz anpasst, nicht umgekehrt. Es gibt heute spezielle Dämmstoffe, die so dünn sind, dass sie in den Zwischenräumen der Holzrahmen verschwinden. Es gibt Fenster, die den alten Stil nachahmen, aber mit Dreifachverglasung arbeiten. Und es gibt Heizsysteme, die in Kellern oder Dachgeschossen versteckt werden, ohne die Fassade zu belasten.
Der Brandschutz ist ein weiteres Thema. Alte Holzbalkendecken brennen leichter. Aber sie zu ersetzen, wäre ein Eingriff in das Denkmal. Also setzt man auf moderne Brandschutzanstriche, die die Holzstruktur nicht verändern, aber die Ausbreitung des Feuers verlangsamen. Es ist kein einfacher Weg - aber er ist der einzige, der beide Seiten respektiert: die Kultur und die Sicherheit.
Die Zukunft: Ressourcen, Recycling und Gemeinschaft
Die Altbausanierung ist heute mehr als ein technischer Prozess. Sie ist eine gesellschaftliche Aufgabe. In Deutschland werden heute schon etwa 50 Prozent der benötigten Baustoffe recycelt - und das wird mehr. Alte Ziegel, Holzbalken, Klinkersteine werden nicht mehr als Müll betrachtet, sondern als wertvolle Ressourcen. In Hannover-Linden-Nord, in Hameln oder Freiburg werden alte Materialien aus abgerissenen Gebäuden wieder verwendet - für neue Fassaden, Terrassen, Wege.
Und es geht um die Menschen. In Dresden, nach der Wende, standen 30 Prozent der Wohnungen leer. Die Bewohner, oft alte Menschen, wurden ausgegrenzt. Dann kam die Bürgerinitiative IG Äußere Neustadt. Sie kämpfte nicht nur für bessere Heizungen, sondern für ein Leben in Würde. 1990 wurde der Stadtteil zum Sanierungsgebiet erklärt - mit einem Sozialplan, der Mieterhöhungen verhinderte und die Bewohner vor Verdrängung schützte. Ein Modell, das heute in vielen Städten kopiert wird.
Die "Bunte Republik Neustadt" in Leipzig, die sich 1990 als Mikronation ausrief, war kein Scherz. Sie war ein Statement: Sanierung ist nicht nur Beton und Dämmung. Es ist Kultur. Es ist Kunst. Es ist Gemeinschaft. Die Stadtteilfeste, die heute von Vereinen organisiert werden, sind das Ergebnis dieser Bewegung. Sie zeigen: Ein Haus ist kein Investment. Es ist ein Zuhause.
Warum das alles heute noch zählt
Heute macht die Altbausanierung mehr als die Hälfte des gesamten Bauvolumens in Deutschland aus. Wir bauen nicht mehr so viel Neues - wir reparieren, erneuern, verwandeln. Und das ist gut. Denn jedes renovierte Haus spart CO₂. Jede alte Fassade, die erhalten bleibt, bewahrt Geschichte. Jeder Bewohner, der bleiben darf, stärkt die Stadt.
Die Technik hat sich verändert. Die Gesetze haben sich verschärft. Aber der Kern ist derselbe wie vor 40 Jahren: Es geht nicht um die perfekte Dämmung. Es geht um das richtige Miteinander. Um Respekt für das, was da ist. Und um die Kraft, etwas zu bewahren - statt es zu ersetzen.